Kunden brauchen (keine) Callcenter

so, nur ohne die Klammern, überschreibt Rainer Kolm, vom Institut für Customer Experience Management, seinen Artikel.

Es ist, meiner Meinung nach, durchaus etwas daran, wenn er unter „Neue Service Welten“ wie folgt schreibt:

Unternehmen sind für Kunden im Servicefall keine Telefonnummern oder E-Mail Adressen mehr, sie sind Teil eines Mediums mit dem Sie über Computer und mobile Endgeräte in jeder Form und zu jeder Zeit eng vernetzt sind, dem Internet.

Das klassische Callcenter,

welches Rainer Kolm einleitend beschreibt, ist in vielen Fälle bereits Geschichte – die Callcenter-Unternehmen erfinden sich gerade neu. Sie nennen sich inzwischen auch Contact-Center, aber im allgemeinen Sprachgebrauch ist der alte Begriff fest verankert. Ich werde ihn also weiter benutzen.

Wenn Rainer Kolm also hier ausführt:

Der CIO des sechstgrößten Dienstleistungsunternehmens wird aber nicht müde zu betonen das er: „Schlagworte wie ‚Kundenservice‘ 2.0 halte ich für komplett unsinnig“ hält. Spätestens hier stellt sich die Frage ob die klassischen Call Center noch in der Lage sind Kundenbedürfnisse in Zeiten der digitalen Transformation überhaupt noch zu verstehen. geschweige denn zu erfüllen.

dann kann ich nur sagen, dass die Digitalisierung in vielen Callcentern bereits weit fortgeschritten ist. Die verschiedenen Kanäle, ob Mail, Social Media und Chat sind bereits integraler Bestandteil der Arbeit. Ob das nun „Kundenservice 2.0“ heißen muss ist mir persönlich egal.

Im neuen Callcenter

arbeiten AgentInnen (die meist nicht mehr so bezeichnet werden) auf den verschiedensten Kanälen im Kundenkontakt, teils auch schon nach Vorarbeit von Chatbots und KI. Diese übernehmen bereits den Erstkontakt, analysieren das Kundenanliegen und beantworten automatisiert Anfragen für die kein Mitarbeiterkontakt erforderlich ist. Diese Form der Digitalisierung schreitet ständig voran.

Ist Mitarbeiterkontakt noch nötig?

Ich meine, er ist und bleibt nötig.

Erstens sind Mitarbeiter im Callcenter meist die einzigen persönlichen Kontakte des Kunden zum Unternehmen. Zum Beispiel in der Telekommunikations-Branche. Die Anbieter unterhalten am Wohn- oder Arbeitsort der Kunden meist nur noch Shops. In diesen arbeiten oft reine Verkäufer, die mit Serviceanfragen der Kunden überfordert sind.

Zweitens sind viele Kunden nicht in der Lage das anstehende Problem in „Maschinen-verständlicher Form“ zu schildern. Als Beispiel nehme ich hier den beliebten WLAN-Ausfall, der in Wirklichkeit ein Internet-Ausfall ist. Viele Kunden verwenden fälschlicherweise die Begriffe WLAN und Internet synonym.

Als dritten Grund möchte ich die steigende Anzahl älterer Internet-NutzerInnen nennen, die im Falle des Festnetz-Ausfalles zwar mobil anrufen, aber entweder kein mobiles Internet haben oder mit dem Smartphone überfordert sind.

Es gibt natürlich weitaus mehr Gründe für den Kunden-Mitarbeiter-Kontakt als die hier genannten. Ich möchte mich aber auf diese beschränken.

Die Anzahl der Kundenanliegen steigt.

Ich bleibe beim Beispiel Telekommunikation und Internet. Hier steigt die Durchdringung des privaten und beruflichen Umfeldes mit den neuen Technologien. Gleichzeitig (das ist kein Widerspruch) sinkt das Grundwissen der Nutzer über diese Technologien. Hatte Anfang der 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Computernutzer meist recht umfangreiche Hard- und Software-Kenntnisse, so tendieren diese heute gegen Null. Sie werden einfach nicht mehr benötigt. Somit wird, bei aller Zuverlässigkeit der Systeme, die Anzahl der Kundenanfragen weiter steigen. Einen großen Teil der zusätzlichen, eventuell auch einen erheblichen Teil der bereits vorhandenen, Kundenanfragen werden Chatbots übernehmen können. Es werden aber weiterhin genug Anfragen bleiben, die aus verschiedenen Gründen im direkten Kundenkontakt geklärt werden müssen.

Die Herausforderung für Callcenter

besteht darin, dass MitarbeiterInnen benötigt werden, die über weit mehr als Grundkenntnisse der Technologien verfügen müssen. Reichte es vor einigen Jahren aus den Kunden dazu zu bewegen Verkabelungen zu prüfen, den Router zu rebooten oder einzurichten, so kommen höhere Anforderungen auf die MitarbeiterInnen zu. Die gerade genannten Tätigkeiten kann nämlich der Chatbot auch – wenn er das Anliegen des Kunden erfasst hat.

Hier werden in Zukunft Fachkräfte benötigt, die meist nicht so einfach auf dem Arbeitsmarkt zu finden sind. Auf die Callcenter-Branche kommt hier ein hoher Aufwand an Aus- und Weiterbildung zu.

Einen ersten Schritt haben der Call-Center-Verband, der Call-Center-Club und der Deutsche-Dialogmarketing-Verband mit dem Bündnis für Ausbildung im Dialogmarketing eingeleitet.

Diese Fachkräfte gewinnen, ausbilden und halten wird eine der zentralen Herausforderungen der Branche, das ist den Unternehmen auch bewusst. Als Beispiel dafür empfehle ich das Interview mit Harry Wassermann auf der Call-Center-World 2017.

Fazit:

Das Ende des Callcenters ist nicht gekommen – die Branche muss sich neu erfinden, sie ist dabei.

Der These: „Kunden brauchen kein Callcenter“ kann ich nicht zustimmen.

Meine Gegenthese lautet:

„Auftraggeber wollen am liebsten keine Callcenter – weil Mitarbeiter Geld kosten.“ Das wird sich aber nicht vermeiden lassen.

Vollbeschäftigung ist eine politische Forderung,

die allen linken Parteien programmatisch gut zu Gesicht stehen würde. Das scheint auf den ersten Blick eine absurde Aussage zu sein, schließlich vertrete ich das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE). Warum also plötzlich meine Forderung nach Vollbeschäftigung?

In der letzten Zeit beschäftigen sich viele Menschen mit der neuen Arbeitswelt, die durch Automatisierung, Digitalisierung, Robotik und weitere technische Errungenschaften entstanden ist. Viele behaupten nun, dass der Anteil der menschlichen Arbeit immer weiter zurückgeht und somit eine Vollbeschäftigung nicht mehr erforderlich oder auch nicht mehr möglich ist.

Diese Aussage birgt politisches Dynamit in sich, besser noch: einen politischen Kernsprengkopf.

Nicht genug damit, dass sie eine Spaltung der Gesellschaft in arbeitende und nichtarbeitende Menschen für gut befindet, sie fördert diktatorische Machtverhältnisse.

Mensch der Arbeit, aufgewacht!

Und erkenne deine Macht!

Alle Räder stehen still,

Wenn dein starker Arm es will.

diese Strophe aus dem „Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ von Georg Herwegh war immer ein wichtiger Bestandteil der Arbeiterbewegung. Allerdings hieß es da noch Mann der Arbeit. Diese Bezeichnung habe ich im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit geändert. Was aber, wenn es den Mensch der Arbeit nicht mehr gibt?

Ein politisches Grausen zieht durch mein Gemüt. Automatisierte Fabriken, Supermärkte, in denen Roboter die Regale auffüllen, und Kassen-Roboter, fahrerlose Autos, Straßenbahnen, Busse und Züge, Pflegeroboter, Robocops und Robosoldiers und so weiter ersetzen den Mensch der Arbeit. Ein System mit wenigen Menschen, die die Abläufe betreuen. Und das alles in einem kapitalistischen System.

Wir hätten dann eine Spaltung der Gesellschaft in Besitzende – schließlich bleibt das System kapitalistisch – in wenige Arbeitende (Systembetreuer), die dann eine privilegierte Schicht bilden, weil sie das System anhalten könnten, und in eine Masse Konsumenten. Die Masse der Konsumenten dürfte wahrscheinlich sogar wählen, sie dürfte vielleicht Volksabstimmungen abhalten. Politisch wäre sie aber de facto machtlos.

Auch die Regierungen und Parlamente wären machtlos dem Willen der Besitzenden und Privilegierten ausgeliefert. Die Besitzenden und Privilegierten wären dann die einzigen die die Existenz der Gesellschaft sichern würden. Das gäbe ihnen absolute Macht in nie gekanntem Ausmaß.

Ich wundere mich wenn Menschen, die sich als links denkend bezeichnen, die Forderung nach Nicht-Arbeit vertreten. Die These, dass die Menschen dann Zeit für Bildung, Kreativität und Kultur hätten, ist bestechend, aber falsch.

Wer bestimmt denn dann was Bildung ist? Ich empfehle das Gespräch von Beatty und Montag in Fahrenheit 451 zur Lektüre. Bildung reduziert auf nutzloses Wissen, wie hier:

Man beschäftigt die Leute mit Wettbewerben – wer am meisten Liedtexte auswendig kennt oder Hauptstädte aufzählen kann und dergleichen, man stopft ihnen den Kopf voll unverbrennbarer Tatsachen, bis sie sich zwar überladen, aber doch als >Fundgrube von Wissen< fühlen. Dann glauben sie, denkende Menschen zu sein und vorwärts zu kommen, ohne sich im Geringsten zu bewegen.*

Wer jetzt an „Wer wird Millionär“ denkt, der ist auf dem richtigen Weg. Der erste Schritt zur „Familie in den Wänden“ (bei Bradbury) ist mit den daily soaps schon längst getan. Bildung und Entertainment in einem kapitalistischen System ohne den Mensch der Arbeit – wollen wir das wirklich?

Was ist nun der Plan B**?

Wenn es weniger Arbeit*** gibt, dann muss sie auf mehr Menschen verteilt werden.

Wenn es weniger Arbeit gibt, dann ist der gesetzliche 8-Stunden-Arbeitstag zu lang.

Wenn es weniger Arbeit gibt, dann ist die gesetzliche 5-Tage-Arbeitswoche zu lang.

Ein Gegenargument wäre, dass es zu wenige Fachkräfte gibt. Die Antwort „Warum haben wir diese nicht ausgebildet und tun es auch heute nicht?“ drängt sich auf.

Wer soll diese zusätzlichen Arbeitskräfte bezahlen, schließlich soll die Arbeitszeitverkürzung ja keine Lohneinbuße nach sich ziehen? Die Antwort ist nicht in einen Satz zu fassen. Zum Ersten: Wir bezahlen als Gesellschaft auch ALG und ALG II. Dieses Geld bezahlen die Arbeitenden und die Unternehmen. Der Staat nimmt es nur ein und verteilt es. Zweitens: Sinn des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist es, Waren und Leistungen zu produzieren und zu verkaufen. Mehr Arbeitende – mehr Umsatz von Waren und Leistungen. Als Drittes noch: Bei kürzerer Arbeitszeit steigt sowohl die Produktivität als auch die Qualität der Waren und Leistungen. Dazu gibt es Studien, bitte selbst googeln.

Ich habe einleitend geäußert, dass ich die Forderung nach dem BGE unterstütze. Für mich ist aber das BGE nicht als Bezahlung für Nicht-Arbeit gemeint. Ich sehe es als Voraussetzung für menschenwürdiges Leben und Arbeiten. Leben und arbeiten ohne Existenzangst ist eher mein Ansatz. Mit dem BGE wäre die Erpressbarkeit der Arbeitenden abgeschafft.

Es gibt im linken politischen Spektrum viele Volks- und Betriebswirte, Wirtschafts- und Politwissenschaftler und vor allem phantasievolle Menschen. Also stellt euch die Frage, ob eine Vollbeschäftigung mit einem 6-Stunden-Arbeitstag (für den Anfang), einer 4-Tage-Arbeitswoche und einem BGE politisch sinnvoll und wirtschaftlich machbar wäre. Ich bin der Meinung, dass ein solcher Ansatz aus vielen Gründen sinnvoller ist als ein „Recht auf Faulheit“****.

Ohne näher darauf einzugehen: Denkt auch darüber nach, welche Bildung wir brauchen, um das durchzuziehen.

Und nun ihr. Sagt mir, ob ich völlig falsch denke.

P.S. Ich habe hier bewusst auf Verlinkungen und ausführliche Ausarbeitung des Themas verzichtet. Der Artikel soll zum Neu-Denken anregen, Kritik wird gern entgegengenommen.

* Bradbury, Ray; Fahrenheit 451, Diogenes Taschenbuch 20862, ISBN 978-3-257-20862-7; Das gesamte Gespräch ist auf den Seiten 81-88 zu finden. Es enthält viele wichtige und gute und erschreckende Thesen. Ich kann es nur empfehlen.

** Warum ich Plan B statt Alternative verwende, ist hier zu finden.

*** Ein Hinweis: Es gibt nicht zu wenig Arbeit. Es gibt viele dringend notwendige Arbeiten, die nicht erledigt werden. Denkt an Verkehrswege (vor allem Gehweg), Pflegeberufe, Lehrberufe und viele andere mehr. Diese Arbeiten werden nicht erledigt, weil es angeblich an Geld und Arbeitskräften fehlt. Ist das nicht absurd?

**** Das „Recht auf Faulheit“ wird oft nicht so benannt, ist aber als Forderung in den Diskussionen um den Sinn der Arbeit versteckt. Ich habe schon darüber geschrieben.