Fragt sie solange sie leben!

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Josef Köhler als Strafgefangener 1952

Ich habe es nicht getan. Ich habe meinen Vater und meine Mutter nicht über ihre Rolle im 3. Reich und der DDR gefragt. Mein Vater starb 1994, meine Mutter 2006, erst 2008 begann ich damit die Spuren meines Vaters zu suchen.

Diesen Artikel schreibe ich aus zwei Gründen. Zum ersten, es gibt die Diskussion um den Unrechtsstaat DDR und auch um den persönlichen Umgang der Nachgeborenen mit der eventuellen Stasi-Vergangenheit ihrer Eltern. Zweitens möchte ich mit der Arbeit an der Biographie meines Vaters fortfahren. Dazu fehlen mir noch immer Informationen.

Ich gehöre zu der Generation 50+, also zu denen die eine DDR-Karriere und eine bundesrepublikanische Karriere haben. Mein Vater war ebenfalls ein Zwitter, Jahrgang 1923, er war alt genug um im 2. Weltkrieg zu kämpfen, alt genug für die sowjetische Kriegsgefangenschaft und jung genug um von Anfang an in der DDR dabei zu sein. Meine Mutter, Jahrgang 1934, war für das Erste zu jung aber für die DDR genau im richtigen Alter.

Warum habe ich nicht genauer nachgefragt?

Die Erzählungen waren ja so einleuchtend und bestechend einfach, da musste ich nicht fragen.

Mein Vater wurde, als Kind katholischer Handwerker, in einem kleinen erzgebirgischen Dorf geboren, besuchte nach der Grundschule ein Jesuitenseminar und wurde 1942 zur Wehrmacht einberufen. In Stalingrad lief er zur Roten Armee über, kämpfte mit dieser gegen die Nazis und wurde anschließend von den Sowjets bis 1953 in Kriegsgefangenschaft gehalten. Danach kam er nach Leipzig, wo seine inzwischen aus ihrer Heimat vertriebenen Eltern lebten, lernte meine Mutter kennen und machte sich, mit den in der Gefangenschaft erworbenen russischen Sprachkenntnissen, als Übersetzer und Dolmetscher selbständig. Er gründete mit anderen Kollegen einen Betrieb, dieser wurde 1960/61 verstaatlicht. Danach arbeitete er weiter als Freiberufler, schlug sich mit der DDR-Bürokratie und der Staatssicherheit herum, lehrte Russisch an der Volkshochschule und war langjährig in der Vereinigung der Sprachmittler (VdS) der DDR ehrenamtlich tätig. Er war der DDR gegenüber kritisch eingestellt, die Sowjetunion mochte er trotz der Gefangenschaft, er begrüßte die Perestroika und freute sich als die Wende kam.

Wenn sie mit diesen Erzählungen aufgewachsen wären, hätten Sie dann genauer nachgefragt?

Ich habe es nicht getan, nach der Kindheit und Jugend rückten ja Beruf und eigene Familie in den Vordergrund. In den 70ern und 80ern schien das ja alles nicht so wichtig zu sein und nach der Wende begann das Ringen um den Neuanfang in der Bundesrepublik.

2008, einige Operationen standen bevor und eine längere Phase der Rekonvaleszenz war absehbar, fasste ich den Entschluss für meine Kinder aufzuschreiben was sie für einen tollen Großvater hatten. Ich meinte mich auf sicherem Terrain zu bewegen – es war ja die Geschichte eines Widerständlers, wenn nicht Helden.

Zu diesem Zeitpunkt waren meine Eltern verstorben, mit dem einen Teil der Familie gab es Stress, mit dem anderen Teil besteht kaum Kontakt, also suchte ich alles aus dem Nachlass zusammen und begann zu recherchieren.

Warum habe ich nicht gefragt, als sie noch lebten? Das frage ich mich heute, nach tausenden Seiten aus Akten bei der BStU, dem Staatsarchiv, den Archiven der Universität Leipzig und der Polizei Sachsen, nach Kontakten mit dem Jesuitenorden, dem FSB, dem BND und nicht genug Zeitzeugen. Viele der Zeitzeugen sind verstorben, viele nicht auffindbar und andere reden nicht.

Wenn man die Geschichte meines Vaters sieht, wie ich sie bisher herausgefunden habe, wird das auch verständlich.

Die Geschichte ist ganz anders als die Erzählung. In der jetzigen Version gibt es eine HJ-Karriere, eine NSDAP-Mitgliedschaft, Arbeit für den NKWD und die Kriegsgefangenschaft dauerte nur bis 1948. Von 1948 bis 1951 war mein Vater in Leipzig, arbeitete bei der Polizei, studierte an der Universität Leipzig, holte seine Eltern von Thüringen nach Leipzig und war hauptsächlich für das KGB tätig. Dann verschwand er wieder, vom KGB verhaftet, in die Sowjetunion und kehrte 1953, nach einer Lesart als Resident des KGB, zurück.

Auch die nachfolgende Geschichte unterscheidet sich von den Erzählungen, darauf will ich hier nicht eingehen.

Ich möchte den jungen Menschen, die sich für Geschichte interessieren, nur einen Rat geben.

Fragt eure Eltern, solange sie leben!

Fragt sie nicht um ihr Leben zu werten, fragt nach ihren damaligen Motiven um ihre früheren Entscheidungen zu verstehen. Ohne diese Fragen, oder schlimmer noch mit einer Vorverurteilung, werdet ihr weder die Geschichte der DDR, noch die Geschichte der alten Bundesrepublik verstehen.

Vielleicht werden eure Eltern zuerst ausweichen, wenn sie aber merken, dass nicht Verurteilung sondern das Verstehen euer Motiv ist, dann werden sie euch auch Antworten geben.

Ich wünschte, dass ich es noch könnte.

P.S. Sollte sich jemand für die Geschichte des Josef Anton Köhler interessieren, oder weitere Hinweise geben können, ich bin für jeden Hinweis dankbar.

Erstveröffentlichung in Der Freitag 15.10.2014

Ein kleines Gespräch über TTIP

„Was hast Du eigentlich gegen Freihandel?“ Das fragte mich gestern ein Kollege, als ich über den Protest gegen TTIP sprach.

Das folgende Gespräch brachte mich zu der Erkenntnis, dass wir Erklärungsbedarf haben wenn wir mit „Otto Normalverbraucher“ sprechen. Der Kollege dachte nämlich wirklich, dass es bei der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (englisch Transatlantic Trade and Investment Partnership – TTIP) um Freihandel, im herkömmlichen Sinne des Wegfalls von Einfuhrbestimmungen, Exportbeschränkungen und Strafzöllen zur Förderung der Produktion und des Handels geht. Mit Handel ist in seinem Denken der Austausch von Waren zwischen „Partnern auf Augenhöhe“ gemeint.

Ich habe versucht ihm zu erklären, dass es geht um etwas anderes, um die Durchsetzung von Interessen der multinationalen Konzerne gegenüber Staaten.

Am besten lässt sich TTIP historisch mit den Opiumkriegen des britischen Empires im 19. Jahrhundert vergleichen. Das Kaiserreich China hatte einen enormen Exportüberschuss gegenüber den Briten, den die Ostindische Kompanie mit dem Export von bengalischem Opium nach China ausgleichen wollte. Ob nun die Gründe der kaiserlichen Regierung edel, also die Bekämpfung der Opiumsucht, oder rein ökonomisch waren sei dahin gestellt. Die chinesische Regierung verbot den Import von Opium, das war für die Briten der casus belli für den ersten und den zweiten Opiumkrieg. Diese Darstellung ist nur eine Kurzfassung.

TTIP ist die Fortsetzung einer solchen Politik mit nicht militärischen, sondern juristischen Mitteln.

Was bedeutet TTIP für uns?

Die Freihandelsvereinbarungen bedeuten eine Nivellierung von verschiedenen Standards, wie Qualitäts-Standards, auf das Niveau des Mitgliedsstaates mit den niedrigsten Standards, für den Im- und Export in alle anderen Staaten des Vertrages. Das niedrigst mögliche Qualitäts-Niveau verspricht den maximalen Profit.

Ganz populistisch nahm ich des Deutschen liebstes Getränk – das Bier – als Beispiel. Für den Import nach Deutschland und den Handel in Deutschland würden bei Inkrafttreten von TTIP nicht mehr die deutschen Bestimmungen gelten, sondern die Bestimmungen z.B. der USA. Adieu Reinheitsgebot, Massenimport von Billigbier – selbst die Produktion desselben in Deutschland wäre die Folge. Der Deutsche würde diesen Bierersatz, gemäß dem Aldi-Prinzip, auch kaufen – bis es das „richtige“ Bier nicht mehr gibt.

Wende ich das oben ausgeführte Beispiel auf andere Produkte an, dann wird das Problem noch sichtbarer. Auch wenn wir uns manchmal über den langen Weg eines Medikamentes bis zur Zulassung für den deutschen Markt aufregen – wollen wir eine Beschleunigung auf das Niveau des Staates mit der schnellsten Zulassung? Weniger Tests und somit höhere Risiken bei der Anwendung wären die logische Folge. Allerdings wären diese Medikamente wahrscheinlich billiger.

Für technische Geräte gelten Sicherheitsvorschriften, manchmal betrachten wir diese als kleinlich, aber wollen wir wirklich den geringsten Sicherheitsstandard der in einem Vertragsstaat gilt?

Wenn dann die billigsten Produkte, gefertigt nach dem niedrigst möglichem Qualitäts-Standard die Märkte beherrschen, dann werden die Produktionsbedingungen und auch die Löhne und Gehälter – zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit – angeglichen, selbstverständlich nach unten.

Mein Kollege sage gestern „So schlimm wird das schon nicht.“ – da irrt er aber. Es wird vielleicht noch schlimmer. Die Vertragsstaaten wollen schließlich vereinbaren, dass der Freihandel im o.g. Sinne einklagbar wird.

Die Teilnehmerstaaten müssen dann den geringeren Standard akzeptieren – ob sie wollen oder nicht.

Die einzigen, die von dem Abkommen profitieren sind die multinationalen Konzerne. Sie allein können die Massenartikel zu geringen Preisen in allen Unterzeichner-Staaten des Abkommens auf den Markt bringen. Somit können sie die ihnen genehmen Standard als allgemeinverbindlich durchsetzen. Im Sinne der Profitmaximierung wird es der niedrigst mögliche Standard sein. Diese Konzerne sind auch die einzigen die einen juristischen Kampf gegen die Staaten, die sich verweigern wollen, führen können.

Was es für die Industrie der Unterzeichner-Staaten bedeutet, wenn diese wenigen Konzerne, die Weltproduktion und den Welthandel bestimmen, das wird sich zeigen. Es wird aber für den einzelnen Arbeitnehmer oder für die Bevölkerung des einzelnen Staates wenig Gutes bringen.

Mein Fazit:

TIP bringt uns vielleicht preiswertere Waren in die Geschäfte – wir werden aber einen hohen Preis zahlen.

TTIP führt letztendlich zu einer faktischen Herrschaft der multinationalen Konzerne – wie im 19.Jahrhundert, als die Ostindische Kompanie, mit der britischen Regierung als Erfüllungsgehilfen, die britischen Kolonien beherrschte.

Bildquelle: thx Piraten NDS https://mkr.piraten-nds.de/2014/04/25/rede-zu-beginn-des-ttip-info-tages-in-goettingen/

Michael Seemann ist mein Held!

Das ist zwar etwas ironisch, aber es ist schon was dran. Wer außer Michael Seemann, könnte in Kurzform (erstens, zweitens, drittens) präzise und lesbar zusammenfassen worum es bei dem Kampf für den Schutz der Privatsphäre nicht geht. Zumindest mir nicht.

Warum stimme ich ihm nicht zu?

„Für die überwachende Instanz ist es egal, ob sie mich wegen eines öffentlichen Tweets oder einer privaten E-Mail zur Verantwortung zieht. Mir übrigens auch.“ [1]

Mir hingegen ist es nicht egal, ob die Kenntnisse der Strafverfolgungsbehörden aus einem öffentlichen Tweet oder aus einer privaten E-Mail kommen. Schon gar nicht ist mir egal, wenn sie von meiner Festplatte kommen. Dort habe ich meine Gedanken skizziert. Gedanken, die ich nicht oder noch nicht mit der Öffentlichkeit teilen will. Genau so wenig ist es mit egal, wenn die Erkenntnisse aus einem Brief stammen, den ich jemandem geschickt habe. Dem Autor Michael Seemann, ist es gewiss auch nicht egal, wenn sein nächster Artikel vorzeitig bekannt wird.

Ich habe mich bereits zum Schutz der Privatsphäre im Social Media, im Speziellen, und im Net im Allgemeinen geäußert. Dort gibt es keinen Schutz. Was ich dort öffentlich mache, sei es auch anfangs für einen geschlossenen Empfängerkreis, ist öffentlich.

Michael Seemann schreibt:

„Gäbe es eine intakte Privatsphäre, könnte sie uns nur dann vor Unterdrückung bewahren, wenn wir unsere Eigenschaften und Meinungen in ihr verbergen. „ [1]

Und wenn ich das will?

Steht mir das nicht zu? Es geht ja nicht um Hautfarbe, sexuelle Orientierung und andere Eigenschaften, die Michael Seemann im Artikel beschreibt. Es geht um die generelle Frage; „Habe ich das Recht etwas für mich zu behalten?“ oder gibt es Jemanden der alles über mich wissen muss.

Bevor ein falscher Eindruck entsteht, Michael Seemann hat einen mir wichtigen Terminus vergessen. Dieser ist anlasslos. „Für mich behalten“ bedeutet keinen Freibrief für kriminelle Taten. Für die Verfolgung dieser ist aber immer die Verhältnismäßigkeit der Überwachung ausschlaggebend. Ein konkreter „Tatverdacht“ muss vorliegen. Dann gibt es auch kein Brief- oder Telefongeheimnis mehr.

Wenn Michael Seemann also schreibt;

„Statt die Privatsphäre gegen die Beobachtung zu verteidigen, sollten wir vielmehr gegen die Instanzen der Bestrafung kämpfen: Autoritäre Grenzkontrollen, rassistische Polizeianordnungen, homophobe Strukturen in der Gesellschaft, ungerechte Gesundheitssysteme und institutionelle Diskriminierung sind die eigentlichen Problemfelder der Überwachung.“ [1],

dann frage ich mich, ob es eigentlich Zufall ist, dass viele Aktivisten des Schutzes der Privatsphäre gleichzeitig gegen die von Michael Seemann aufgezählten Probleme ankämpfen und sich öffentlich positionieren?

Das ist kein Widerspruch, meine ich.

Zum Abschluss noch folgendes. Im Text wird oft das (verniedlichende) Wort „Beobachtung“ verwendet. So hier;

„Die Macht, mich zu bestrafen, wenn ich mich den Vorstellungen des Überwachers nicht gemäß verhalte, ist der entscheidende Unterschied zwischen Überwachung und einer einfachen Beobachtung.“ [1]

Wir leben alle in einem Staat. In diesem Staat gibt es ein „Machtgefüge“, ein „Regelwerk“ und ein „Bestrafungssystem“ für Regelverstöße.

Wenn der Staat, in der Form seiner Organe, mich also beobachtet – wo ist dann der Unterschied zur Überwachung? Das gilt nicht nur für den Staat. Auch meine Bank, mein Arbeitgeber, mein Vermieter und andere können mich disziplinieren.

Eines ist sicher, wir müssen anders über Überwachung reden. Vielleicht anders als Michael Seemann – wahrscheinlich auch anders als ich. Aber reden wir darüber.

Wir habe übrigens nur über die online Menschen geredet. Was ist mit denen, die offline sind und trotzdem überwacht werden?

P.S. Wer es nicht bemerkt hat, ich habe mich auf „drittens“ konzentriert. „Erstens und zweitens“ sind für mich nur der rhetorische Einstieg.