Obwohl durchaus mit ernstem Hintergrund, der Artikel kann Elemente von Ironie und Satire enthalten. Also Vorsicht
Ich begebe mich mit dem Begriff wohl auf dünnes Eis, es wird reflexhaften Widerspruch geben – das halte ich aber aus. Da der Begriff Leitkultur ja nun von Pegida, Legida und anderen …gidas wieder aufgewärmt wird, ist es wichtig sich mit ihm zu beschäftigen.
Der russische Schriftsteller Lukianenko lässt in einem seiner Wächter-Romane den „dunklen Anderen“ Edgar einen amerikanischen Offizier fragen:
„Gibt es etwas in Ihrem Leben, das Ihnen heilig ist? Etwas das Ihnen viel bedeutet?“ Nach längerem Zögern antwortet dieser strahlend „Etwas das mir heilig ist? Natürlich habe ich das! Die Chicago Bulls!“*
So komme ich mir vor, wenn die Legida-Demonstranten auf den Plakaten (siehe Foto) eine „deutsche Leitkultur“ fordern.
Der „Erfinder“ des Begriffes Bassam Tibi, ein syrischer Migrant, prägte den Begriff allerdings anders.
Nach meinem Verständnis, Korrekturen nehme ich gern entgegen, ging es ihm um die Identitätsfindung einer Großgruppe oder auch eines Volkes oder einer Nation in einer Form, die es der Gruppe möglich macht Migranten zu integrieren und die es den Migranten möglich macht sich zu integrieren.
Es geht also um einen Wertekonsens der für alle Beteiligten ausreichend und annehmbar ist.
Was ist nun „deutsche Leitkultur“, zumindest nach dem Verständnis der von mir gefragten Pegi- oder Legidisten?
Sie wissen es selbst nicht, denn die Antwort „Deutsch sein“ ist eine ethnische (exklusive), keine kulturelle Zuordnung. Die christlichen Werte spielen eine geringe, meist gar keine Rolle, denn sie würden ein Bekenntnis zum Christentum erfordern. Selbst die Beherrschung der Deutschen Sprache, also der Hochsprache, ist unter ethnischen Deutschen (soweit man von diesen sprechen kann) sehr unterschiedlich ausgeprägt, bei meinen Gesprächspartnern war das jedenfalls so.
Die Antwort lautet also, wie bei Lukianenko, wahlweise „Der 1.FC Lokomotive“, „Richard Wagner“, „Schweinebraten“ oder „Kuckucksuhr“.
Bei diesen Antworten ist allerdings einen gewissen Kulturpluralismus zu erkennen, denn wenn der Hamburger mit „Labskaus“ antwortete, sagte der Thüringer „Bratwurst“ und der Bayer „Brezn“. Was immer das auch bringt.
Hier schließe ich mich allerdings eher Bassam Tibi an der sagt:
„Es ist eine in allen anderen Demokratien selbstverständliche Tatsache, dass ein Gemeinwesen – gleich, ob monokulturell oder kulturell vielfältig – einen Konsens über Werte und Normen als eine Art innere Hausordnung benötigt. Dies ist die unerlässliche Klammer zwischen den in diesem Gemeinwesen lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion, Ethnie oder Ursprungskultur.“
Was kann nun diese Werte-Klammer sein? Gesetze, selbst das Grundgesetz, und Verordnungen könne es nicht sein. Die Befolgung von Gesetzen ist eine Frage der Vernunft, der Angst vor den Folgen eines Verstoßes oder der Konformität.
Welche Werte vertreten wir Deutschen im Europa des 21. Jahrhunderts?
Ich lasse die Frage hier offen und warte auf Antworten.
An dieser Stelle mache ich einen Schwenk nach Frankreich und zu einer Meldung von gestern. Auch wenn Spiegel-online marktschreierisch titelt:
Hollande plant Anti-Terror-Unterricht an Schulen,
es geht tatsächlich um einen so genannten Staatsbürgerkunde-Unterricht, oder Werteunterricht an den französischen Schulen.
Warum ist das für mein Thema wichtig?
Es gehe darum, den Schülern bereits ab der ersten Klasse und bis zum Abitur die „Grundregeln“ der Republik zu vermitteln, sagte der Sozialist […]. Zu diesen Regeln gehöre auch der Grundsatz der Laizität, also der Trennung von Staat und Kirche. Laizismus richte sich nicht gegen die Religionen, sie garantiere im Gegenteil die Religionsfreiheit, sagte Hollande.“
Die Grundregeln der Republik: Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit (vor dem Gesetz und Chancen-Gleichheit), Demokratie und Laizismus – das wäre dann (theoretisch) in Kurzform die französische Leitkultur.**
Keine schlechte Idee, oder?
*Lukianenko, Sergej; Wächter des Tages; ISBN 3-453-53200-7, S 424
**Es liegt mir fern Frankreich als Vorbild darzustellen, das Beispiel dient der Illustration und als Gedankenansatz.
Bildquelle: http://www.demotix.com/photo/6716666/thousands-protest-against-legida-march-leipzig