Hast Du schon mal daran gedacht im Callcenter zu arbeiten?

Der Artikel wurde am 12.01.2017 ergänzt.

Wenn ich meinen Leser oder meine Leserin, also Dich, mit Du anspreche soll das keine Intimität vorgaukeln sondern Dich darauf vorbereiten, dass im Callcenter das „Du“ die übliche Form der Anrede ist. Aber wir sind ja alle erwachsen und wissen, dass es trotzdem Hierarchien gibt. Im Callcenter sind die allerdings relativ flach und überschaubar.

Wie komme ich darauf, dass ausgerechnet Du im Callcenter arbeiten würdest?

Ganz einfach, Du meinst ja immer, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dort wären alle unfähig und Du könntest es viel besser. Oder Du bist arbeitslos und selbst Dein Sachbearbeiter bei der Jobagentur, von Bekannten und Verwandten ganz abgesehen, meint, Callcenter wäre unter Deiner Würde oder entspräche gar nicht Deinen Bildungsabschlüssen – Du wärst für eine solche Tätigkeit völlig überqualifiziert.

Das sind allerdings eher Gründe, es doch einmal zu versuchen.

Was kommt auf Dich zu?

Was ein Callcenter ist und was ein Callcenter-Agent macht habe ich bereits mehrfach auf meine Weise beschrieben. Wenn es Dich interessiert, klicke einfach den entsprechenden Link.

In der Kurzfassung würde das so klingen:

  •  Du hast meist Schichtdienste
  •  arbeiten an Wochenenden und Feiertagen ist normal
  •  der Job ist stressig und hart (von wegen „Telefonieren kann ja jeder“)
  •  in Deinem Umfeld hast Du eventuell den unteren sozialen Status
  • für viele Kunden bist Du der Prellbock zum Auftraggeber (das ist freundlich ausgedrückt)

Dem entgegen steht:

  •  Du kannst es besser machen als die, über die Du Dich beschwerst
  •  der Job ist interessanter als die meisten denken
  •  du hast meist tolle Kollegen und Kolleginnen (die anderen leider auch)
  •  Du bekommst Anerkennung von den Kunden – wenn Du den Job gut machst

Argumente wie: Du verdienst Geld, Du hast Arbeit usw. überlasse ich den Mitarbeitern der Jobagentur oder, wenn Du noch so jung bist, Deinen Eltern.

Was bekommst Du für Deine Arbeit?

Hier kann ich natürlich nur für das Callcenter reden, in dem ich arbeite, das ist aber das beste von den drei Callcentern, in denen ich schon war.

Auf jeden Fall bekommst Du zu wenig; das will ich Dir nicht verschweigen.

Übrigens ich bin selbst an der Hotline als Callcenter-Agent und nebenbei Betriebsratsmitglied – jedenfalls bin ich kein professioneller Recruiter. Ich habe andere Intentionen für diesen Artikel. Der erste Grund ist eine Wette. Ich meine: Du bewirbst Dich weil oder obwohl ich die Wahrheit über den Job schreibe. Einige meiner Korrektoren zweifeln daran. Der zweite Grund ist: Wir suchen Mitarbeiter mit Motivation.

Also hier ganz sachlich die Konditionen:*

  • Gehalt: 1.500 € bei einer 40-Stunden-Woche (unten stehende Ergänzung beachten)
  • Einstellung mit unbefristetem Arbeitsvertrag
  • Urlaub: im ersten Jahr 22 Tage, ab dem 2. Jahr 25 Tage,
  • Jobticket mit Arbeitgeber-Zuzahlung von 5,01 € (das bedeutet Du sparst 22% bei einem ABO basic der LVB für die Zone Leipzig).
  • Zuschlag für Sonn- und Feiertagsarbeit, sowie für Nachtschichten

Natürlich erfolgt eine Einarbeitung, nach meiner eigenen Erfahrung eine gute, zu Beginn des Arbeitsverhältnisses.

Über Provisionen (besser leistungsabhängige Zuschläge) will ich nicht reden. Es gibt sie, aber die sind in den einzelnen Projekten verschieden und ich weiß ja nicht ob Du sie so schnell erreichst. Auch die überall versprochenen Aufstiegschancen bestehen natürlich. Ob Du sie nutzt liegt nicht nur an Dir, es liegt auch daran, ob freie Stellen für Führungskräfte da sind. Ich sprach oben von flachen Hierarchien, das bedeutet auch, dass es viele Indianer und nur wenige Häuptlinge gibt.

Was musst Du mitbringen?

Als erstes Motivation, oder wie die jüngeren Kollegen sagen „Du musst Bock auf den Job haben“. Ich habe das in einem Artikel mal so ausgedrückt:

Kann das Spaß machen?

Sehen wir es doch sportlich: Mitarbeiter werden, wenn sie es lange genug aushalten, zu Troubleshootern. Aufgebrachte Kunden beruhigen, ärgerlichen Kunden ein Lachen abringen – das macht Spaß und ist oft befriedigend. Probleme lösen oder die Lösung anstoßen macht auch Spaß.

Ansonsten brauchst Du Grundkenntnisse am Computer und die grundlegende Beherrschung der deutschen Sprache in Wort und Schrift. Der Rest ist Lernen und Übung. Ein dickes Fell ist hilfreich aber nicht Grundbedingung, angemessene Umgangsformen sind aber eine solche.

Wenn Du das gelesen hast, also bis hier durchgehalten hast, stelle ich Dir nochmal die einleitende Frage:

Hast Du schon mal daran gedacht im Callcenter zu arbeiten?“

Wenn ja, dann melde Dich. Wenn du in Leipzig und Umgebung wohnst, dann melde dich doch bei uns, andere Standorte* deutschlandweit findest Du hier.

Für Fragen, Kritiken und Beschimpfungen stehe ich Dir natürlich auf den üblichen social-media-Kanälen zur Verfügung.

Disclaimer: Ich werde für diesen Artikel von meiner Firma nicht bezahlt. Also spare Dir die Frage. Richtig ist, ich möchte neue Kollegen und Kolleginnen, die ich gewarnt habe.

Ergänzung, Änderung zum 01.01.2017

Seit dem 01.01.2017 gibt es ein Grundgehalt von 1.600,00 € für Vollbeschäftigte (40-Stunden-Woche) bei uns.*

* die genannten Konditionen weichen an den anderen Standorten ab.

Warteschleife

Jede/r kennt diese elenden Warteschleifen beim Anruf des Kundendienstes oder technischen Supports. Nervige Musik, das ständige Versprechen der nächste Mitarbeiter sei für eine/n da und das gewürzt mit Werbung für (fast) neue Produkte und Hinweisen wo die Kundennummer zu finden sei.

Am anderen Ende der Warteschleife sitzen wir, die Callcenter AgentInnen und hoffen, dass der nächste Kunde oder die nächste Kundin nicht allzu lange genervt wurde.

warteschleifeDa der Mensch von Natur aus egoistisch ist, müssen wir uns sonst bei jedem Gespräch erst einmal anhören wie lange die Wartezeit war und wie schlecht die Musik, auch wenn das die Wartezeit für die nächsten KundInnen verlängert.

Wir können das nicht beeinflussen, die Auftraggeber schon. Wie wäre es mit einem freundlichen Hinweis an die KundInnen?

Etwa in der Form:

Liebe Kundin, lieber Kunde,

wir bitten um Ihr Verständnis, dass Sie warten müssen. Bitte denken Sie daran, am anderen Ende der Leitung erwartet Sie ein Mensch der bemüht ist Ihre Probleme zu lösen. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können die Wartezeit nicht beeinflussen, behandeln sie diese also bitte als Menschen.

Danke für Ihr Verständnis.

Vielleicht würde der eine Kunde oder die andere Kundin sich diesen Hinweis zu Herzen nehmen. Das allein könnte die Krankenquote und den Einsatz von „bunten Pillen“ in Callcentern nachhaltig senken.

Besser wäre natürlich die Verbesserung der Produktqualität, die Einhaltung von Terminen oder Rückrufversprechen oder die Aufstockung des Personalbestandes. Aber man kann ja nicht alles haben.

Hinweis: Der Artikel kann Spuren von Ironie und Frustration enthalten.

Bildquelle: http://www.flensburger-stadtanzeiger.de/news-bilder/warteschleife.jpg

Die Schmuddelkinder der Hightech-Welt,

oder auch die Beschäftigten im Billiglohnsektor, kommen ja nicht von irgendwo her. Vielmehr sind sie ein geduldetes Phänomen der Geiz ist geil! oder Ich bin doch nicht blöd! (Un)Kultur unserer Gesellschaft.

Wohlgemerkt, ich schreibe hier nicht über Textilarbeiterinnen in Bangladesch oder Kinder in indischen Steinbrüchen. Diese sind allgemein als Opfer unserer Wegwerfkultur bekannt und jede/r schämt sich wenn er/sie darauf angesprochen wird. Die Scham bleibt nur völlig folgenlos, wenn die Beschämten danach zu KIK rennen oder für das neue iPhone fast einen Monatslohn hinlegen.

Ich habe irgendwie gerade so die Kurve vom iPhone zu den Schmuddelkindern genommen, wenn ihr das bemerkt habt.

Ich gehe mal davon aus, dass das die meisten meinen, Technik kann ruhig teuer sein – Service muss aber hochwertig und kostenfrei sein. Also holt man sich den Service dort wo er kostenfrei ist und wo man hohe Qualität erwarten kann. Das technische Gerät dort, wo es am billigsten ist.

Hier setzt nun meine Betrachtung zum Billiglohnsektor an, selbstverständlich (weil ich es schreibe) geht es um die Beschäftigten in den Callcentern der Republik.

Es ist nicht der erste Artikel den ich zu dieser Thematik schreibe, aber heute möchte ich eine andere Betrachtung in den Vordergrund rücken.

Ich erinnere an den letzten Artikel, dort schrieb ich:

Antwortete ich auf die Frage, was ich beruflich mache, mit „Ich mache technischen Support für einen Telekommunikationsanbieter“ war das eine interessante Tätigkeit. Sagte ich aber „Ich arbeite in einem Callcenter“, dann war ich der „arme Depp vom Dienst“.

Das meine ich wenn ich von Schmuddelkindern spreche. Die allgemein akzeptierte Annahme, dass die Arbeit im Callcenter eine minderwertige Arbeit ist, entsprechend sind die dort Beschäftigten. In dem Artikel habe ich auch meine Version der Entstehung dieses Images dargestellt. Was muss ein Callcenter-Agent oder eine Callcenter-Agentin aber wirklich leisten?

Noch einmal mein Coming out. Ich arbeite seit 2011 in Callcentern – auf der untersten Ebene, als Callcenter-Agent oder Kundenberater, zur Zeit im technischen Support.

Einen großen Teil meines Fachwissens über Elektronik, Telekommunikation, Internet, Computer, Hard- und Software und weitere im Zusammenhang mit meiner Arbeit stehende Kenntnisse habe ich mitgebracht. Den anderen Teil, den speziell auf den Telekommunikationsanbieter zugeschnittenen, habe ich in einem wirklich guten, wenn auch kurzen, Lehrgang gelernt.

Damit ist schon die erste Forderung der KundInnen beschrieben, sie erwarten einen Fachmann oder eine Fachfrau am anderen Ende. Ist diese Forderung aber berechtigt? Ja, sie ist berechtigt wenn sie sich auf Probleme beschränkt die mit dem Anbieter, dem Telekommunikationsunternehmen, zusammenhängen. Nein, alles was Peripherie, sprich eigene Hard- und Software, ist – das könnt ihr mal schön selber klären. Das Beispiel, ihr kauft beim Ich bin ja nicht blöd! oder Geiz ist geil! ein Modem oder einen Router, dann seht zu wie ihr damit klar kommt. Ich muss den nicht kennen. Warum kauft ihr ihn denn dort? Ach ja, er ist billig – dafür gibt’s kaum Service. Den Service wollt ihr unbezahlt von mir. Ja, unbezahlt – denn dafür bekomme ich kein Geld von meinem Auftraggeber. Ehrlich gesagt mit Recht, denn ich werde bezahlt um Support für seine Produkte zu leisten. Das darf ich euch aber nicht so sagen und damit kommen wir zu eurer zweiten Erwartung.

Die zweite Erwartung ist, dass am anderen Ende ein Kommunikationstalent sitzt. Ein Mensch der euch auch eine, oben beschriebene, Ablehnung verkauft ohne euch weh zu tun. Ich gehe hier mal von mir aus, meine Kommunikation habe ich in ca. 40 Arbeits- und Studienjahren gelernt. Zum oben beschriebenen Lehrgang gehörte natürlich auch Kommunikation – aber ehrlich, in 6 Wochen (davon 3 Theorie) Technik und Kommunikation lernen? Fragt mal jemanden der sich professionell mit Kommunikation beschäftigt, wie lange man braucht um Gesprächsführung professionell zu beherrschen. Im Zusammenhang mit dem Kommunikationstraining wurde uns auch beigebracht, dass wir auf den Kunden eingehen sollen. Klingt gut, das reicht euch aber meist nicht – ihr erwartet mehr.

Ihr erwartet, dass bestenfalls ein Psychiater gekoppelt mit einem Pfarrer am anderen Ende der Leitung sitzt und euch tröstet und aufrichtet wenn ihr nicht klarkommt mit dem Geiz-ist-geil-Gerät. Wenn ich gut gelaunt bin, also meist, bezeichne ich diesen großen Teil meines Jobs als Telefonseelsorge. Habt ihr euch schon einmal überlegt, wie lange einer von den beiden, von euch erwarteten Spezialisten, studieren muss und was der in der Wirtschaft, in der Medizin oder im Pfarramt verdient? Aber eure Erwartung geht noch weiter.

Ihr erwartet einen Menschen der einstecken kann, so eine Art Sparringspartner eines Profiboxers. Den ihr beschimpfen und niedermachen könnt wenn euch danach ist. Ihr erwartet jemanden mit Nehmerqualitäten, wie man im Boxsport sagt.

Was ihr erwartet ist die eine Sache. Was ich persönlich euch mit Erfolg bieten kann ist die andere.

Ich muss hier natürlich einen Schnitt machen zwischen meinen Kunden.

Etwa 50% derselben rufen bei mir an weil ihre Probleme durch meinen Auftraggeber verursacht wurden – an guten Tagen! An schlechten sind es weniger.

40 % habe Probleme die mich nichts angehen, wenn ich mich an meine Vorschriften halte. Was ich aber nicht immer mache.

Etwa 10% brauchen die oben beschriebene Zielscheibe für virtuelle faule Eier und vergammelte Kohlköpfe. Nur 10% sind es an guten Tagen.

Alle wollen eine/n kommunikationsstarke/n, technisch hochkompetente/n TelefonseelsorgerIn mit Nehmerqualitäten.

Wenn Diese/r dann auch noch EntertainerIn ist, dann sind die KundInnen mit dem Schmuddelkind zufrieden.

Übrigens, nicht nur die KundInnen – auch der Chef und der Auftraggeber sind dann mit uns zufrieden.

Und das Schmuddelkind der Hightech-Welt darf sich über den gesetzlichen Mindestlohn freuen – ab Januar 2015. Übrigens, ich habe gehört, der Mindestlohn gefährdet auch in unserer Branche Arbeitsplätze.

Wenn ihr also mal vergleicht was ihr erwartet und was ihr auch oft (viele werden sagen: zu selten) bekommt, gibt es dann einen Grund für das Schmuddelkind-Image?

Zum Abschluss noch eines:

Lieber Kunde, liebe Kundin, lieber Chef und lieber Auftraggeber,

kommunikationsstarke, technisch hochkompetente, telefonseelsorgerische EntertainerInnen mit Nehmerqualitäten die gibt’s nur selten zum Nulltarif.

P.S. Disclaimer: „Mit Geiz ist geil!“ und „Ich bin doch nicht blöd!“ sind ausdrücklich nicht Media Markt und Saturn als Firmen gemeint, es geht um die Mentalität der KundInnen die sich durch diese Werbeslogans beschreiben lässt.

P.P.S. Die Betrachtung kann für jede im Billiglohnsektor verhaftete Branche gemacht werden. Ich habe das Callcenter gewählt, weil dies meine Branche ist.