Wer versteht noch die Welt?

Im Bundestag gibt es derzeit nur zwei Parteien. Die Mitglieder der einen haben sich unter dem Banner „Wir retten die Welt“ versammelt. Die Parteigänger der anderen drücken sich im Dunkeln herum, sie wollen nicht erkannt werden, aber wenn man sie höflich anspricht, dann legen sie ein Geständnis ab: „Ich verstehe nicht mehr, worüber ich entscheiden muss. Ich habe mich noch nie so ohnmächtig gefühlt“

So beginnt der heutige Leitartikel von Reinhard Urschel in der LVZ. Leider ist der Artikel online (noch) nicht verfügbar, also muss ich ein bisschen mehr schreiben.

Die Regierung, das Parlament, pauschal gesagt „die Politik“, ist nicht mehr in der Lage, die Folgen politischen Handelns zu erfassen.

Also die Politiker verstehen die Tragweite der von ihnen zu treffenden Entscheidungen nicht mehr. Ich nehme mal an, die oben beschriebene zweite Partei ist die größere.

Skeptisch gefragt, haben die Politiker (im Bundestag) die Tragweite der Entscheidungen, seit der Einführung des Euro, jemals richtig verstanden?

Oder haben sie sich von Interessengruppen blenden lassen?

Denken wir mal an die Einführung des Euro. Wie wurde sie uns kommuniziert? Eigentlich auf dem Niveau der „größten deutschen Tageszeitung“. Wir müssen im Urlaub nicht mehr umrechnen und umtauschen und es wird alles gut und besser.

Risiko- und Folgeneinschätzungen waren wohl damals nicht gefragt, oder wurden den Interessengruppen überlassen. Denjenigen, die den Euro wollten.

Denjenigen, die heute gerettet werden müssen! Den Akteuren der (virtuellen) Finanzwirtschaft.

Der Artikel schließt mit den Worten:

Vom Handeln der Regierenden hängt es ab, den Menschen die Angst vor dem Versagen der freiheitlichsten aller Gesellschaftsformen zu nehmen.

Dem kann ich mich nur anschließen, aber wie soll das gehen – wenn sie nicht wissen, was sie tun?

Wenn Journalisten regieren würden

Sehen wir es ihm nach, er ist jung und er ist Journalist. Zumal durch Erfahrung an den Finanzschauplätzen unter anderem in London geprägt. Ja, die Rede ist von Mark Schieritz, der ZEIT und dem Artikel Ein Befreiungsschlag für Europa heute auf ZEIT online.

Es ist natürlich nichts Verwerfliches daran zu finden, dass man sich Gedanken macht und diese dann publiziert. Wenn doch, dann mache ich jetzt auch etwas Verwerfliches. Aber ehrlich, ich mache es gern.

Ich dachte im ersten Moment, es wäre Satire, musste mich dann aber davon überzeugen, dass dies nirgends ersichtlich war. Also schauen wir mal, was im 7-Punkte Programm steckt.

Im Punkt 1 des Programms steckt folgendes Kleinod:

Wir haben erkannt, dass es ein Fehler war, die Privatgläubiger durch Schuldenschnitte an den Krisenkosten beteiligen zu wollen, weil sich die Krise dadurch ausgeweitet hat und andere Länder angesteckt wurden.

Niedlich finde ich den Begriff Privatgläubiger, der hat so den Anklang von Oma, die das Geld aus ihrem Sparstrumpf verliert. Nicht ganz so niedlich ist, dass damit die Banken und Finanzjongleure gemeint sind. Die Leute und Institutionen, die (auch mit dem Geld von Oma) spekulieren und beim Schuldenschnitt meist spekulative Gewinne verlieren.

Natürlich weitet sich die Krise aus durch die Beteiligung dieser Institutionen an den Kosten, aber nur weil sie im nächsten Land spekulieren. Mit dem Kapital, welches sie vorher aus dem Krisenland abziehen. Also garantieren wir ihnen ruhig ihre Spekulationsgewinne.

2. Wir gehen davon aus, dass Griechenland die Hälfte seiner Schulden selbst bedienen kann, den Rest – schätzungsweise 175 Milliarden Euro – übernehmen wir.

Bedienen kann ist eine schöne Formulierung. Leider wissen wir ja alle, dass es bedeutet Zinsen zahlen kann. Also kein Abbau der Verschuldung, höchstens eine geringeres Wachstum der Schuldenlast. Aber nur bei gleich bleibendem (nicht steigendem) Zinssatz. Steigen diese, dann wird nichts draus. Die Übernahme des Restes „durch uns“ bedeutet für „uns“ ebenfalls weitere Verschuldung. Sorry, das ist ein Teufelskreis.

 3. Im Gegenzug verpflichtet sich Griechenland zu einem weit reichenden Reformprogramm und wird für die Dauer dieses Programms nur über eingeschränkte fiskalische Souveränität verfügen.

Wer übernimmt nun die fiskalische Oberhoheit über Griechenland? Die EU, also u.a. Länder die in einer vergleichbaren Lage sind, ergo es auch nicht besser gemacht haben?

Oder sind hier konkrete Länder und/oder Personen gemeint?

Der 4. Punkt ist eigentlich seit Jahren (oder sind es Jahrzehnte) überfällig. Ich meine nicht den Konvent, der eigentlich zur Zeit wieder ein Krisengipfel wäre. Ich meine

Wir wollen die politische Union schaffen, ohne die eine Währungsreform nicht funktioniert. Dazu gehört auch die Bekämpfung der internen Ungleichgewichte in der Währungsunion.

 Punkt 5 ist „nur“ die Bekundung einer gemeinschaftlichen Haftung der EU-Staaten für alle Schulden aus der Vergangenheit und für die Zukunft.

Im 6. Punkt sind mehrere bemerkenswerte Passagen versteckt.

Wir werden unnütze Staatsausgaben streichen, aber wir lassen nicht zu, dass der Wohlfahrtsstaat ausgezehrt wird.

Ausgaben für die Wohlfahrt des Volkes sind keine unnützen Ausgaben, somit ist der Zusammenhang für mich nicht nachvollziehbar.

Wir erhöhen darüber hinaus das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre, mit Ausnahmeregeln für bestimmte Berufsgruppen. Diese Maßnahme spart Milliarden und belastet die Konjunktur nicht. Es ist weder verantwortbar noch sozial, einen immer größeren Teil unserer arbeitsfähigen Bevölkerung auf das Abstellgleis zu schieben.

Nun ja, die Rentenzahlung ist natürlich ein Problem, welches die Kassen belastet. Aber wäre es nicht „weiser“ der Jugend im arbeitsfähigen Alter Vollbeschäftigung zu garantieren. Das traut sich der Autor aber nicht. Warum sind bereits vor Jahren in Athen arbeitslose Jungakademiker auf die Straße gegangen? Weil das Rentenalter zu niedrig ist? Wohl kaum. Nicht die Menschen zwischen 65 und 70 gestalten die Zukunft, es sind die zwischen 20 und 30. Der o.g. Vorschlag belastet die Konjunktur wirklich nicht,  HARTZ IV kostet weniger als Rente.

Ach ja, wie war das mit der Auszehrung des Wohlfahrtsstaates?

Am Punkt 7 gibt es nichts zu meckern, aber er ist ja nur eine Absichtserklärung.

Also alles in Allem, warum sollte ich mich aufregen? Es ist ja nur ein Vorschlag – von einem Journalisten.

DIE ZEIT – NEUSTART

Ich habe den Artikel von Heinrich Wefing nun mehrmals gelesen, muss mir nachher erst mal Zigaretten holen, aber irgendwie komme ich nicht ganz klar.

Der Untertitel Recht, Macht und Demokratie: Die Politiker müssen das Netz beherrschen, sonst beherrscht das Netz die Politik, ist mir irgendwie suspekt.

Allein der Ausdruck Das Netz, in diesem Zusammenhang verwendet, drückt doch eine schon als uhl´sche zu bezeichnende Sicht auf das Problem aus. Was ist das Netz? kann doch nicht die Frage sein. Es müsste doch eher heissen Wer ist das (im) Netz? Das sind ja wohl wir, nämlich die Bürger.

Eigentlich beschreibt der Autor das ja auch, wenn er zum Beispiel schreibt Geschichte wird heute mit dem Internet gemacht.

Anders gesagt: Das Internet ist längst mehr als eine technische Infrastruktur, mit der wir arbeiten, kommunizieren und vergnügen. Das Netz besitzt eine fast radioaktive Kraft, die alles verändert – politische Institutionen, demokratische Prozesse. Die Welt, wie wir sie uns eingerichtet haben.

Ein schöner Absatz aus dem Artikel, finde ich. Natürlich ist das Netz etwas anderes als PC, Fernseher und Telefon. Es ist die Infrastruktur zur Bildung neuer Gemeinschaften, gerade im Social Media. Es ermöglicht auf neue Art den Zusammenschluss von Menschen auf den verschiedensten Gebieten.

Jetzt kommt aber die Bedrohungsanalyse, fest gemacht am Eigentum, ich sage nur illegale Downloads. Diese gipfelt in den schönen Sätzen:

Was bleibt von der friedensstiftenden Kraft des Rechts, wenn es in einem Bereich nicht mehr vollstreckt werden kann? Was bleibt dann, sehr zugespitzt gesagt, vom Staat überhaupt.

Auch hier sollte doch mal positiver herangegangen werden. Zum ersten konnte das Recht nie in allen Bereichen durchgesetzt werden. Sollte es wahrscheinlich auch nie, man denke nur an die Frage der Immunität von gewählten Politikern (diese ist natürlich in jedem Staat anders geregelt) oder an diplomatische Immunität. Zum anderen sollte die Frage ja nicht sein „Was bleibt vom Staat?“ sondern „Was entsteht für ein (neuer) Staat?.

Nun kommen weiter Ausführungen zum Geheimnisschutz, die sind im Kontext eigentlich eher uninteressant.

Aber dann:

Die Politik muss sich endlich diesem Abenteuer stellen. Sie muss technisch und intellektuell satisfaktionsfähig werden.

Wieder mal wäre wohl eine Überprüfung der Wortwahl angebracht. Der Umgang mit dem Bürger, der sich hier zufälligerweise über das Internet bemerkbar macht, ist kein Abenteuer. Er ist die normale Arbeit der Politiker.

Technisch und intellektuell sollte der Staat (auch wenn der Autor schreibt die Politik) ja wohl auf der Höhe der Zeit sein. Der Bürger im Netz hat keine besseren Computer, keine bessere Software und teilweise schlechteren Internetzugang. Der Anteil der Hochschulabsolventen im Bereich der Politik ist wohl auch höher als der im Bevölkerungsschnitt.

Ist der Politiker nun satifaktionsfähig?

Der Begriff ist natürlich nicht so klar in dem Zusammenhang, aber schauen wir in die Geschichte. Satifaktion war die Gewährung der Genugtuung für ein Unrecht durch ein Duell. Satifaktionsfähigkeit ist nun nicht eindeutig definiert, aber letztendlich läuft sie auf ein elitäres Denken hinaus. Nehmen wir also die „Minimalvariante“ (Wikipedia Duell) … sofern sie der „besseren“ Gesellschaft angehörten und bereit waren, sich deren „Comment“, d. h. ihren ungeschriebenen Verhaltensregeln, zu unterwerfen.

Also befinden wir uns wohl mit dem Staat im Duell und gehören zur besseren Gesellschaft, der sich der Staat erst noch anschließen muss.

Wenn das so bleibt, hat die Politik keine Chance die verlorene Gestaltungshoheit im Netz zurückzuerlangen.

Hatte sie diese jemals, im Netz? Und wollen wir, dass sie das Netz gestaltet?

Zum Schluss noch ein Protest gegen den Staatstrojaner (so kann man es lesen, muss man nicht).

Es geht nicht darum, sich an die Piratenpartei  ranzuwanzen.

Wenn es hier nicht um Wanzen geht, was soll der Ausdruck bedeuten?

Es geht darum, die neue Welt zu gestalten, die sich vor uns auftut.

Sieht man den nächsten (nun wirklich letzten Satz) dann ist nicht die Welt, sondern ein Abgrund gemeint.

Sonst gestaltet die Welt uns.

Dazu nur eines: Die Welt, das sind doch wohl wir.