Die Stimme des Volkes

ist wohl eher nicht die Stimme Gottes (wenn es ihn denn gibt) im Sinne von „vox populi – vox Dei“. Eher trifft manchmal der AusspruchNec audiendi qui solent dicere, vox populi, vox dei, quum tumultuositas vulgi semper insaniae proxima sit.“ von Alkuin zu, der im Deutschen bedeutet:

Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen, ‚Volkes Stimme, Gottes Stimme‘, da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt.

So könnte ich argumentieren, wenn ich die Volksabstimmung über den BREXIT oder die Rufe der Menge „Führt die Todesstrafe ein!“ nach dem Putschversuch in der Türkei betrachte.

Es liegt mir aber fern, die Bürgerinnen und Bürger eines Landes, soweit sie einen repräsentativen Durchschnitt darstellen, mit dieser These zu beleidigen.

Es geht hier um zwei grundlegend verschiedene Betrachtungen. Hatten die Briten viele Monate Zeit sich eine Meinung zum EU-Verbleib zu bilden, so waren die Äußerungen der Erdogan-Anhänger aus der Situation direkt nach dem Putschversuch entstanden. Im Klartext, sie waren von Wut und Hass auf die Putschisten geprägt.

Trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Die Unterschiede überwiegen aber.

Der grundlegende Unterschied liegt in der Definition „Volkes Stimme“. In Großbritannien gab es eine Beteiligung von 72% der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger, von denen 51,9% für den Austritt aus der EU stimmten. Auch wenn es nicht wirklich die Mehrheit der gesamten Bevölkerung ist, persönlich betrachte ich die Nichtteilnahme an Wahlen und Abstimmungen als bewussten Verzicht auf mein Wahlrecht und somit Akzeptanz des Ergebnisses, kann man hier von „Volkes Stimme“ reden. Nicht zu vergleichen sind einige Tausend Demonstranten in der Türkei, die nach der Einführung der Todesstrafe schreien.

Auch wenn Herr Erdogan sagt:

„Ja, wir hören auf die Stimme des Volkes. Wir werden die Wiedereinführung der Todesstrafe juristisch prüfen lassen. Wir sind nicht rachsüchtig, aber alle wollen Gerechtigkeit“.

Hierbei handelt es sich nicht um „Das Volk“. Die Rufe kamen aus einer aufgeputschten Menge. Mit einigen Einheizern kann man, wie die Erfahrung lehrt, diese zum erwünschten Ergebnis leiten.

Um auch den Leser mit leitkulturellem Hintergrund des christlichen Abendlandes zu befriedigen, weise ich betreffend der Schwankungsbreite von „Volkes Stimme“ auf die christliche Mär der Osterzeit hin. Rief die Jerusalemer Bevölkerung am Palmensonntag dem Messias noch „Hosianna“ zu, so forderte sie am Karfreitag von Pilatus schon das berüchtigte „Kreuzige ihn!“.

Aber auch sonst ist die „vox populi“ im direkt demokratischen Prozess in Deutschland äußerst unzuverlässig. Wird ein Jugendlicher entführt, ich denke hier an den Fall Jakob Metzler und die Vorwürfe der Androhung von Gewalt gegen W. Daschner, so findet sich eine laute Stimme für die „Folter in Ausnahmefällen“. Es gibt auch in Deutschland Initiativen die „Todesstrafe für Kinderschänder“ fordern und seit dem Anwachsen der Flüchtlingszahlen gibt es schließlich PEGIDA & Co.

Laut ist die so genannte „Stimme des Volkes“ immer, aber drückt sie wirklich die Meinung der Menschen aus?

Ich meine, dass sie diese nicht ausdrückt. Sehen wir ab vom BREXIT, dann sehen wir überall laute Meinungsäußerungen einer Gruppe und eine schweigende oder höchstens flüsternde Mehrheit.

Was ich aber auch sehe sind Herrscher oder Politiker, die entweder diese lauten Stimmen zum eigenen Vorteil nutzen oder sie sogar fördern. Sei es aus Gründen des Machterhaltes in einer Diktatur oder aus wahltaktischen Gründen in einer Demokratie – wobei der Unterschied marginal ist was die Motivation betrifft.

Ich könnte hier noch lange über das Thema schwadronieren, ein taugliches Beispiel wären die Geschworenen-Gerichte in den USA – wo juristisch nicht gebildete Laien die „Stimme des Volkes“ darstellen und nicht über das Urteil, wohl aber über die Schuld des Angeklagten befinden. Die Fehlerquote dieser Urteile ist bekannt.

Ich bin ohne Einschränkungen für die Demokratie in der Form der „Herrschaft des Volkes“ in einer Republik (res publica – öffentliche Angelegenheit) und Formen der direkten Demokratie, wie Plebiszite.

Grundlage dafür muss aber eine wirkliche Meinungsbildung der Beteiligten sein, was natürlich schwer zu erreichen ist, da Interessengruppen hemmungslos beschönigen und lügen, um ihre Meinungen „unter’s Volk“ zu bringen. Eine andere Voraussetzung ist eine hohe Beteiligung an der Demokratie – nicht erst bei der Wahl oder der Abstimmung. Auch das ist schwierig, es geht oft um Themen, die nur Teile des Volkes betreffen. Aber letztendlich betreffen sie alle: Zum Beispiel könnte ja auch ich bei Vorliegen eines Verdachtes gefoltert werden, natürlich nur im Ausnahmefall.

So lange wir das nicht schaffen, werden wir nur eine „Demokratie der Schreihälse“ bekommen – also die negative Form der „vox populi“.

Symbole sind wichtiger als Inhalte?

Ich habe den Eindruck, dass meine Partei, ja es ist meine, gerade einen schweren Gang durchmacht. Sozusagen einen politischen Vereinnahmungsversuch.

Der Auslöser für diese Meinung sind mehrere Artikel in den letzten zwei Tagen und ein Tweet.

Die Artikel von @d1etpunk und @art1pirat möchte ich hier nennen und meinen Lesern ans Herz legen. Beide Artikel sprechen von Frust und Wut gegen diesen Versuch, jeder auf seine Art.

Den Tweet möchte ich nur beschreiben, ich denke er war nicht so gemeint obwohl ich ihn so verstanden habe. Es ging um den Umgang mit den Rechten. Nicht mit den Bürger- oder Menschenrechten, sondern die politisch auf der rechten Seite Stehenden. Meine Meinung ist: Man muss mit allen reden – ohne sich mit ihnen gemein zu machen! Der von mir verlinkte eigene Artikel beschäftigt sich mit diesem Thema. Die Antwort war ein „Basta!“ und „#keinfussbreit ist nicht verhandelbar!“.

Ich komme mal kurz auf den Auslöser der Aufregung zurück. Es ging, wie Florian beschreibt um eine Fahne. Die Fahne der Antifa. Einige Teilnehmer des Bundesparteitages wollten mehrere Flaggen aufhängen, andere keine. Und schon ging wohl auf Twitter ein Shitstorm los.

Aber Florian schreibt auch, dass es keinen offiziellen Antrag an die Versammlung zu diesem Thema gab. Man könnte also darüber hinweg gehen. Wäre da nicht der Artikel von Andreas.

An dieser Stelle möchte ich mich absolut von den Rechten (Definition oben) und allen Spielarten des Extremismus distanzieren.

Der Grund ist meine Anhängerschaft zu Demokratie, Meinungs- und Redefreiheit. Ganz im Sinne des oft misshandelten, weil auf den ersten Satz verkürzten, Zitats von Rosa Luxemburg:

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der »Gerechtigkeit«, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die »Freiheit« zum Privilegium wird. [1]

Ich will ja nicht behaupten oder hoffen, dass ich einen Nazi oder einen Maoisten mit diesen Worten erreichen kann. Aber vielleicht kann ich einen erreichen der noch seinen Platz sucht. Denjenigen der sich durch die Extremisten beider Seiten abgestoßen fühlt. Der sich jedoch wahrscheinlich eher denen auf der rechten Seite anschließen wird. Warum wird er dies wohl tun? Weil ihre einfachen Antworten auf seine Fragen ihm schlüssiger erscheinen.

Und was tun wir nun mit unserem „firstworld problem“ um Symbole und Flaggen?

Am Besten gehen wir mal zur echten politischen Diskussion um wirkliche Probleme über. Zum Beispiel über die Demokratie, nicht die Demokratie der Schreihälse.

Ich bin vor Kurzem nach langer Zeit des Zögerns in die Piratenpartei eingetreten. Weil diese Partei eben Demokratie, Meinungs- und Redefreiheit vertritt. Ich möchte, dass das auch so bleibt.

Bevor sich nun einige auf mich stürzen (was ich befürchte) oder mich schlichtweg alle ignorieren (was ich erwarte aber nicht begrüße) noch eine Frage an euch alle.

Wenn ihr alle Piraten seid, seid ihr euch dann wenigstens beim Thema Überwachung einig?

Absurde Frage? Nein!

Wer heute Andersdenkende aus der politischen Diskussion ausschließt, der fordert morgen deren Überwachung!

[1] Rosa Luxemburg, Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung, Berlin 1920 S. 109; Rosa Luxemburg – Gesammelte Werke Band 4, S. 359, Anmerkung 3 Dietz Verlag Berlin (Ost), 1983( zitiert nach wikiquote)

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P.S. Ich begrüsse ausdrücklich das öffentliche Austragen von innerparteilichen Streitigkeiten. Es wäre mir lieber, wir würden uns nicht um Symbole, Flaggen und Meinungsführerschaft streiten.

P.P.S. Wer sich von dem Artikel angesprochen fühlt, der ist selbst schuld. Ich rede hoffentlich von einzelnen.